Schon seit Jahren erobert das Ethernet als universelles Übertragungsprotokoll zunehmend andere Bereiche. Heute ist Ethernet aus Weitstreckennetzen, dem Heimbereich und der Industrie nicht mehr wegzudenken und hält zurzeit Einzug bei Sensoren, Aktoren und Automobilen.
Das Ethernet, so wie wir es bis dato kennen, braucht zur Datenübertragung bei 10 oder 100 MBit/s mindestens zwei verdrillte und ab 1.000 MBit/s sogar vier verdrillte Aderpaare. Während in Rechenzentren oder Büros die Steifigkeit, der Kabeldurchmesser und das Gewicht von 4-paarigen Kabeln unerheblich sind, stellen diese Parameter in der Industrie ein Problem dar. In einem Kraftfahrzeug sind mehrere hundert Meter Kabel verbaut; und hier zählt jedes Gramm. Ebenso ist es in der Industrie problematisch, einen kleinen Sensor mit einem sperrigen LAN-Kabel zu verbinden. In der Industrie gibt es noch eine weitere Herausforderung: Das klassische Ethernet über 2- bzw. 4-paarige Kupferdatenkabel funktioniert über eine Distanz bis 100 Meter. Manche Kabelhersteller bieten zwar Lösungen an, die auch etwas längere Strecken unterstützen, aber gerade Sensoren und Aktoren in weitläufigen Industrieanlagen benötigen Streckenlängen von mindestens 1.000 Metern. Dies kann das klassische Ethernet im LAN nicht leisten. Eine weitere Forderung der Industrie ist, die Option der Fernspeisung von Geräten, damit auch digitale Sensoren und Aktoren weiterhin über die Datenleitungen mit Strom versorgt werden können.
Um die vielfältigen Herausforderungen in den Griff zu bekommen, arbeiten diverse Arbeitsgruppen in Normengremien an Lösungen. Das Ziel: Ethernet wird nur noch über das sog. „Single Pair Ethernet“ (SPE) übertragen.
SPE-Normung
Den ersten Vorstoß für SPE machten in den Normengremien für Verkabelungen die Gruppen, die für Industrieverkabelungen zuständig sind. Die erste Idee war, Ethernet über ein einfaches, 1-paariges Kabel über mindestens 1.000 Meter übertragen zu können, um analoge Sensoren und Aktoren abzulösen. Schnell wurde klar, dass es wesentlich mehr interessante Anwendungen für SPE gibt als nur die 1.000-Meter-Distanz für die Industrie.
Die Rechenzentrum- und Bürogruppen meldeten sich mit eigenen Ideen, SPE auch in im Office-Umfeld einzusetzen. Einsatzszenarien sind u.a. die Anbindung von Endgeräten über leichte Kabel und kleine Steckverbinder oder die LED-Beleuchtung über Ethernet. SPE könnte die Möglichkeit eröffnen, über normale 4-paarige Verkabelungen bis zu einem Sammelpunkt oder zur Anschlussdose des Teilnehmers zu gehen und von dort aus vier Endgeräte mit SPE zu versorgen.
SPE-Anwendungen
In Rechenzentren wäre es aus Kosten- und Platzgründen interessant, Monitorleitungen für Switches und Server über SPE zu betreiben. Bei diesen Verbindungen ist SPE völlig ausreichend, da keine großen Datenraten benötigt werden. Eine weitere Anwendung, für SPE ist die Gebäudesteuerung und -überwachung, wo es bereits eine Vielzahl konkurrierender, inkompatibler Übertragungsprotokolle gibt. Ein gemeinsames Übertragungsprotokoll für die Einbindung von Steuerungen für Türen, Rollos, Heizungen und Klimaanlagen wäre eine erhebliche Erleichterung.
Zusätzlich arbeitet die Automotive-Branche an SPE im Kraftfahrzeug bis 15 und 45 Meter, was jedoch keine Anwendung für eine klassische, strukturierte Verkabelung ist.
Fernspeisung über SPE
Um Endgeräte über SPE-Verkabelungen betreiben zu können, ist eine Fernspeisung der Geräte unabdingbar. Mit der IEEE 802.3bu hat das IEEE die Definitionen für eine Fernspeisung über SPE bereits definiert. Da sich die Spezifikationen aber grundlegend von „Power over Ethernet“ (PoE) unterscheiden, wurde die Technik „Power over Dataline (PoDL) benannt. Zum einen ist die Stromübertragung anders – die Übertragung erfolgt über ein Paar und nicht über mindestens zwei Paare. Zum anderen ist die maximal mögliche Stromstärke bei PoDL mit 2 A doppelt so hoch als bei PoE+. Es reicht also nicht aus, dass ein Verkabelungssystem PoE+ unterstützt, wenn PoDL mit maximaler Leistung eingesetzt werden soll.
Messtechnik für SPE
Mit dem Technischen Report ISO/IEC TR 11801-9906 erschien im Jahr 2020 ein Dokument der ISO/IEC, das einen ersten Teil der Varianten für strukturierte SPE-Verkabelungen beschreibt. Parallel arbeitet IEEE an den korrespondierenden Übertragungsstandards. Dieser Technische Report fokussiert ausschließlich auf die von IEEE geplanten Anwendungen. Der neue Report soll Anwender unterstützen, die SPE-Strecken für Ethernet-Varianten planen müssen. In einem weiteren Schritt wird ISO/IEC eine Ergänzung herausbringen, in dem die ISO/IEC11801-1 mit generischen Verkabelungsklassen für 1-paarige Verkabelungen erweitert wird. Mit dem vorliegenden Entwurf der ISO/IEC TR11801-9906 sind die ersten Anforderungen an die Verkabelung schon weitgehend definiert. Was die künftige Erweiterung der ISO/IEC11801-1 angeht, sind die Voraussetzungen gerade jedoch erst im Entstehen.
Die Vorgaben an die SPE-Messtechnik, abhängig von den Verkabelungsstandards, stehen indes noch am Anfang. Diese Definitionen werden wohl in die Normenreihe der IEC 61935 zur Definition von Messungen an installierter Verkabelung aufgenommen. Die Annahme liegt nahe, dass Messungen an einem Paar (mit oder ohne Schirm) einfacher sein müssten als an vier Paaren. Aber: Anders als bei 2- oder 4-paarigen Verkabelungen, die ab 1 MHz definiert sind, ist bei langsamen Protokollen ein Frequenzbereich ab 100 kHz nötig. Bis dato ist aber weder Labor- noch Feldmesstechnik im Frequenzbereich 100 kHz bis 1 MHz definiert. Es sind zwar nur 900 kHz mehr zu messen, aber es ist offen, mit welcher Genauigkeit gemessen werden muss, um eine einwandfreie Übertragung sicherzustellen.
In der Industrie sind elektromagnetische Verträglichkeit und Störfestigkeit bedeutende Themen. Hier ist noch zu definieren, wie die Störfestigkeit gegenüber externen Störquellen gemessen werden kann. Es gibt bei SPE-Strecken zwar kein Nahnebensprechen, jedoch könnten sich dicht nebeneinanderliegende SPE-Strecken gegenseitig stören.
Um möglichst genaue Messungen zu erreichen, ist bei RJ45-Stecksystemen das Prinzip der Referenzstecker und -buchsen notwendig, da normale Standardware zu hohe Messfehler erzeugt. Je nach Anwendung kommen bei SPE also völlig neue Stecksysteme zum Einsatz. Hier ist noch zu klären, inwieweit für diese ebenfalls Referenzwerte zu definieren sind.
Mit der Entwicklung von SPE eröffnen sich vielfältige neue Anwendungsmöglichkeiten für strukturierte Verkabelungen für Rechenzentren, Büros und Industrie. Außerhalb der strukturierten Verkabelung wird SPE auch in der Automobilbranche Einzug halten und dort ein wichtiges Element für zukünftige Automobilgenerationen werden.
Bis alle Normen für SPE definiert sind und die Implementierung am Markt vollzogen ist, wird es noch etwas dauern. Aber SPE wird kommen und für alle Beteiligten neue Möglichkeiten eröffnen.
29.07.2022